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Grünteeblätterlesen in Peking


Die Interpretation innerchinesischer Machtkämpfe war nie eine einfache Sache gewesen, weder für Insider noch für westliche Analysten. Dies bestätigen die geradezu filmreifen Entwicklungen rund um die offensichtliche Entmachtung von Bo Xilai, dem umstrittenen KP-Chef von Chongqing, einer Region in der Volksrepublik China mit über 30 Millionen Einwohnern. Einer breiten Öffentlichkeit war er bereits hinlänglich bekannt geworden als charismatische und zugleich konträre Persönlichkeit mit einem neo-maoistischen Faible. Ihn unbedingt als einen Neo-Maoisten zu bezeichnen, wäre allerdings auch zu einfach.

Was allerdings im Kontext der Absetzung von Bo passierte, verblüffte allerdings auch die gut informierte chinesische Diaspora: Nicht nur eine Quasi-Fluchtversuch seines Polizeichefs Wang Lijun in ein US-Amerikanisches Konsulat mit anschließender Umzingelung des Gebäudes durch chinesische Polizeikräfte und angeblich freiwilliger Selbstauslieferung des Delinquenten vor das berüchtigte Komitee für innerparteiliche Disziplin in Peking. Dort führt – bisher – He Quoiqiang das strenge und nicht unumstrittene Regiment der Korruptionsbekämpfung. Hier befindet sich auch ein Quasi-Geheimdienst, der parallel zu anderen dieser Art operiert. Diese organisatorischen Auswüchse findet man zwar auch bei demokratischen Staaten, aber in China läuft das noch etwas heftiger ab.

Auch weitere Details zeigen die schier unlösbare Verquickung familiärer, politischer und wirtschaftlicher Umstände in China: Neben dem schon ausführlich, offenbar besonders wegen seines luxuriösen Lebenstils zitierten zweiten Sohnes Bo Guagua, existiert ein Sohn aus erster Ehe mit Li Danyu namens Li Wangzhi. Nach allem, was bisher an die Öffentlichkeit gedrungen ist, hatte dieser Sympathien für die Tiananmen Bewegung und vertrat überhaupt recht offen demokratische Positionen. Nun ist – wie man sich leicht überzeugen kann – die Gerüchteküche der chinesischen Bloggerszene eigentlich immer eher am Überkochen als am Abkühlen, jedoch lassen sich beim vorliegenden Fall die verschiedenen getroffenen Behauptungen zumeist recht gut belegen. Dazu gehört der jahrelange, bis heute andauernde Zorn der aus einer einflussreichen Familie stammenden Li Danyu auf Bo. Unter anderem wirft sie ihm vor, dass er rein opportunistisch vorgehen und seine ehelichen Beziehungen entsprechend gestalten würde: Auch die derzeitige, jetzt inhaftierte Gu Kailai gehört einer einflussreichen Familie an, sie ist die Tochter des bekannten Militärs Gu Jingsheng. Zudem kommt, dass Bo seine Beziehung zu Gu bereits während seiner noch bestehenden Ehe mit Li führte und der Scheidungskrieg ca. vier Jahre dauerte – gelöst durch ein politisches Machtwort von Bos Vater und gegen den Willen von Li. Noch absurder wird die ganze Geschichte durch den Umstand, dass der Sohn aus erster Ehe auf Geheiß von Bo inhaftiert wurde und es angeblich bis auf den heutigen Tage ist. Li, die damit eventuell zum Schweigen über Bos Aktivitäten gezwungen werden sollte, hätte also genügend Gründe, um Bo zu schaden. Der zweiten Ehefrau wird mittlerweile eine Beteiligung an dem Tod von Neil Heywood, dem dienstbaren Geist der britischen Sicherheitsfirma Hakluyt, deren gute Kontakte zum MI6 bereits Gegenstand von Untersuchungen des britischen Parlamentes waren, vorgeworfen.

Aktuell kommt der zweite Sohn wieder verstärkt ins Spiel, wobei mittlerweile seine interessanten und einflussreichen Kontakte insbesondere aus dem universitären Bereich im Vordergrund stehen. Zwar soll er als Student nicht sonderlich geglänzt haben, doch scheint sein sorgsam gepflegtes Netzwerk bisher seiner Karriere, der seines Vaters oder dem nach und nach ans Tageslicht tretenden internationalen Firmennetzwerk Gus genutzt zu haben: Jobs in der Wirtschaftsabteilung der britischen Botschaft in China, in Consultingfirmen oder Fonds mit asiatischem Schwerpunkt und schließlich in Gestalt von Lord Powell – angeblich seinem „Mentor“ zu Studienzeiten –, der bereits unter Margaret Thatcher und John Major in Sicherheitsverwendung diente und mittlerweile im Advisory Board von Diligence sitzt. Diese gehört ebenso wie Hakluyt, mit der der angeblich ermordete Neil Heywood in Kontakt stand, zu jenem Kreis kommerzieller Dienstleister, die von ehemaligen Geheimdienstlern gegründet worden sind und häufig entsprechend operieren. Möglicherweise wird der nun seiner Perspektive beraubte Sohn in den USA politisches Asyl finden. In der Heimat könnte es für ihn ebenso ungemütlich werden wie für seine Eltern. 

Und der wegen seines Vorgehens gegen die organisierte Kriminalität von vielen Bewohnern Chongqing und darüber hinaus bewunderte Wang? Dieser kam offensichtlich jenen Leuten in die Quere, die bereits in einem vertraulichen Bericht der Chinesischen Volksbank aus dem Jahre 2008 gebrandmarkt worden waren: Korrupte Parteikader und Offizielle, die Millionen außer Landes schaffen und dabei vornehmlich die USA, aber auch die EU und Südostasien ansteuern. Wang hatte wohl solcherlei Aktivitäten bei Gus Firmennetzwerk entdeckt und sich damit verständlicherweise nicht sonderlich beliebt bei Bo gemacht. Dazu kam, dass Wang auch offen war für westlich geschulte Chinesen, mit deren Hilfe er der heimischen Korruption zu Leibe rücken wollte – ein wohl immer noch suspektes Unterfangen in der Sicherheitsbürokratie Chinas. Zumindest ist mir ein konkreter Fall bekannt (ich nenne übrigens keine Namen und ansonsten werden Informationen, aber keine Informanten preisgegeben).

Chinesische Wissenschaftler, die im westlichen Ausland Korruption und Organisierte Kriminalität als Forschungsgebiet haben, berichten regelmäßig von den Schwierigkeiten, auf die sie bei Feldstudien in China stoßen. Ebenso wie Anwälte und Journalisten müssen sie zumindest in Teilbereichen um ihre Sicherheit und manchmal um ihr Leben fürchten.

Apropos Sicherheit: Mit Zhou Yongkang ist eine geradezu legendäre Größe chinesischer Geheimdienste der Nachkriegszeit ins Visier geraten, über den ich gerne mal einen längeren Aufsatz verfassen möchte. Dieser hatte – obwohl er ab und an mit reformistischen Vorschlägen für Verwunderung in der Partei sorgte – sich einen Ruf als brutaler Verfolger der Opposition gemacht. Insbesondere die Tiananmen-Bewegung, Tibet und Falun Gong hatten es ihm angetan. Er soll auch mitverantwortlich gewesen sein für „medizinische“ Experimente, mit denen Häftlinge wieder auf den rechten Weg gebracht werden sollten. Seit dem Ende seiner Dienstzeit als Chef des Gonganbu im Jahre 2007 ist er Koordinator der Nachrichtendienste. Neben seinem Einfallsreichtum bei internationalen Operationen gegen Dissidenten, Bürgerrechtsgruppen und den Nobelpreisträger Liu Xiaobo sowie der Instrumentalisierung der chinesischen Exilcommunity zeichnete Zhou auch generell ein unkonventionelles Vorgehen aus: Kontakte zu den Triaden waren in Ordnung, solange darüber Informationen über die Exil-Tibetaner flossen, partybegeisterte chinesische Studenten im Westen sahen sich plötzlich durch ihre Botschaft gesponsert – gegen die Ware Information und Agitation usw. usf. Ebenso waren die ehemaligen Feinde Vietnam und Japan und deren Geheimdienste willkommen, um die grassierende organisierte Kriminalität einzudämmen. Zhou war ebenso sogleich zur Stelle, um die unverbrüchliche Freundschaft und vor allem Kooperation mit dem designierten nordkoreanischen Herrscher Kim Jong Un in Pjöngjang zu bekräftigen und gebührend zu begießen. All das macht das Rätselraten um seine Person, sein Verschwinden von der Bildfläche und plötzliches Auftauchen nur schwer verständlich. Stellt sich seine enge und langjährige Bekanntschaft zu Bo nun als Nachteil heraus? Man kann Zhou zwar heute auf dem Titelblatt der Hubei Daily bewundern, aber das sagt in China nicht unbedingt etwas über die Integrität oder Unversehrtheit der gezeigten Personen.

Der gesamte Fall zeigt die Unberechenbarkeit und auch Radikalität chinesischer Innenpolitik. Die Überraschung lag sicherlich in der offenherzigen Thematisierung der Causa Bo durch die Regierung in Peking. Er demonstriert jedoch auch das Problem, das durch die Korruptheit bevorzugter Eliten, besonders der begünstigten Abkömmlinge ehemaliger Idole oder mächtiger Funktionäre, einem Staatsgefüge entstehen kann, das seinen Platz im internationalen Normengefüge noch sucht. Die Probleme, die mit der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität in China zusammenhängen, ließen sich bereits aus einigen der von Wikileaks veröffentlichten Botschaftsdepeschen herauslesen. Insofern wären neue Informationen aus dem US-Konsulat, in das sich Wang begeben hatte, von Interesse. Die dargestellten Friktionen nutzen aber mit Sicherheit den westlichen Nachrichtendiensten, falls diese die Gunst der Stunde nutzen: Gerade die Person Zhou polarisiert das Personal chinesischer Nachrichtendienste und dies wird sich auch auf das weltweite Botschaftspersonal niederschlagen. Man kann davon ausgehen, dass bestimmte Schlüsselpositionen ausgetauscht werden und einige Köpfe rollen werden. Die Chancen, kommunikative Chinesen in diplomatischer Verwendung zu finden, dürften derzeit recht hoch sein. Möglicherweise wird auch ein Überläufer dabei sein.

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