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Die Nachrichtendienste angesichts des Corona Virus

Die derzeitige Krise, hervorgerufen durch den Corona Virus, bietet eigentlich eine gute Gelegenheit, die heilige Kuh namens Intelligence Cycle unter nahezu Kriegsbedingungen zu testen: Traditionelles nachrichtendienstliches Arbeiten orientiert sich seit Jahrzehnten an diesem Modell – besonders in Europa, besonders in Deutschland. Die spärliche Literatur im deutschen Sprachraum zu diesem Modell, vieles davon eher im Bereich von Competitive Intelligence angesiedelt, behandelt dieses starre System geradezu als sakrosankt. Es kann nun bewiesen werden, ob es funktioniert!



Man kann jedoch gleich konstatieren, dass vieles davon nun hinterfragt werden muss. Sammlung von Daten, Verarbeitung und Weitergabe der dann hoffentlich generierten Informationen: Wie kann das heute funktionieren? Es fängt bereits bei MEDINT, also Medical Intelligence an. Im sehr guten Nachschlagewerk von Godman und Maret („Intelligence And Information Policy For National Security“) geht es hier um nicht mehr und nicht weniger als um 

„foreign medical, bio-scientific, and environmental information that is of interest to strategic planning and military medical planning and operations for the conversation of the fighting strength of friendly forces and the formation of assessments of foreign medical capabilities in both military and civilian sectors.“
Wie soll das nun funktionieren? Darf die nachrichtendienstliche Quelle jetzt noch in China auf die Strasse und in die Krankenhäuser geschickt werden? Darf interessantes Material, dürfen aussagekräftige Dokumente jetzt noch in die Botschaft vor Ort, in die konspirative Wohnung, in den kontaminierten toten Briefkasten, in das nun geschlossene Café gebracht werden – wo doch
niemand mehr da ist, der es entgegen nehmen kann?! Was passiert mit den geheimen Informationen? Gibt es eine sichere Leitung von innen nach aussen, von zuhause in eine Behörde?

Joseph Fitsanakis engt das Problem noch mehr ein:

„Additionally, top secret intelligence that is designated as Sensitive Compartmented Information (TS/SCI) must remain inside specially designated physical spaces known as Sensitive Compartmented Information Facilities (SCIF). This poses problems, not only for remote operations, but also for social-distancing, as SCIFs tend to be relatively small in size. Many agencies are addressing the problem by “moving to split shifts to reduce the number of people at the office at given times” and separating personnel into “essential” and “non-essential”, but these definitions are still in the process of being determined.“
In Deutschland kommt in Sachen intelligence noch eine weitere  compartmentation hinzu, nämlich jene mit dem Namen Föderalismus: Wie sollen 16 Bundesländer, jedes einzelne mit Verfassungsschutz und Staatsschutz ausgerüstet, mit Bundesbehörden und Militär und Außenpolitik effektiv kooperieren – wenn doch alle zuhause bleiben und sich in der Vereinzelung üben sollen? Bis man sich im Sinne einer Aufrechterhaltung der öffentlichen und nationalen Sicherheit für eine praktikable Zentralisierung und Fokussierung durchgerungen hat, ist vermutlich die letzte Klopapierrolle verkauft worden. Es zeigt sich immer wieder, dass Terroristen und Kriminelle sich durchaus der haarsträubend divergierenden Länderregelungen, in Deutschland wie Europa, bewusst sind und ihr Handeln dem anpassen. Eine Krise wie die jetzige ist für diese Kreise eine grossartige Chance – und das kann Angst einjagen. Sind wir darauf vorbereitet oder müssen wir erst eine Telko einberufen und versprengte Referatsleiter irgendwo aus dem Urlaub holen? Was sagt die Gleichstellungsbeauftragte dazu? In der aktuellen Ausgabe von „Joint Force Quarterly“ (JFC) schreibt Trent J. Lythgoe unter dem Titel „Beyond Auftragstaktik“ auf der Seite 31:

„This obsession with decentralization is not only ahistorical but also potentially dangerous. There are axiomatic reasons to be wary of hyper-decentralization.“

Der so oft beschworene Intelligence Cycle ist zwar so schön einprägsam und lässt sich irgendwie auch grauen Verwaltungsvorgaben anpassen – aber er erweist sich auch oft als unflexibel und stammt aus Zeiten, in denen die Bedingungen eben andere waren als heute. Und auch heute und gerade heute müssen erneut die Rahmenbedingungen hinterfragt werden: Welche Rolle soll HUMINT künftig in diesem Prozess spielen? Wie sinnvoll sind die
Investitionen in Satelliten und Software (und diese Frage stellte sich die CIA in den 70ern, in den 80ern, in den 90ern...bis heute!) und wann wird begriffen, dass nachrichtendienstliches Arbeiten nicht ohne HUMINT auskommt und dass das Geld kostet? Aber wie kann heute eine Quelle in einem chinesischen Labor rekrutiert werden, wenn sie zuhause bleiben sollte? Wie kann unter den jetzigen Bedingungen HUMINT funktionieren? Und wie und wo sollten die gewonnen Erkenntnisse in einen Intelligence Cycle eingespeist werden, der hinten und vorne stottert, von politischen Grabenkämpfen ausgebremst und von juristischen Vorgaben blockiert wird? 

Zur Inspiration und Zerstreuung lese ich derzeit erneut die Memoiren von Kissinger. Zwar bezogen auf die Außenpolitk, jedoch anwendbar auf intelligence, ein in der Politikwissenschaft mangels geeigneter Defintion irgendwie im Bereich der Außenpolitik verorteter Begriff, zitiert er darin nicht nur eine Erklärung Rockefellers vom Juni 1968 während seines Wahlkampfes, in dem dieser u.a. sagte:

„Es gibt keinen Sammelpunkt für eine langfristige Planung auf zwischenbehördlicher Basis. Ohne einen zentralen Sammelpunkt der Regierung wird die Außenpolitik zu einer Reihe nicht miteinander im Zusammenhang stehender Entscheidungen – in ihrem Wesen krisenorientiert, ad hoc und nach rückwärts blickend. Wir werden zu Gefangenen der Ereignisse.“
Kissinger selbst schreibt dazu – passenderweise unter der Überschrift „Die Arbeit wird organisiert“:

„Meine Hauptsorge bestand darin, daß eine weitläufige Bürokratie, so gut sie auch organisert sein mag, dazu neigt, Kreativität zu ersticken. Sie verwechselt kluge Politik mit reibungslos verlaufender Verwaltungsarbeit. In den modernen Staaten werden Bürokratien so umfangreich, daß zu oft mehr Zeit damit zugebracht wird, sie zu verwalten, als ihre Ziele zu bestimmen.“

Wie kann unter der Ägide des traditionellen Intelligence Cycles die auch informelle Kooperation mit jenen Nachrichtendiensten hergestellt werden, die eigentlich unsere Gegner sind und die unsere Geheimnisse stehlen wollen – auf deren Hilfe wir jetzt angesichts der Krise aber angewiesen sind, so wie sie unsere benötigen? Ihr Modell gegen unseres, ihr information processing gegen das unsere? Können oder sollen Kontrollinstanzen hier eingreifen oder geht es nun um zügige Lösungen? 

In der fünften Ausgabe von „Intelligence Analysis. A Target-Centric Approach“ (wirklich alle Ausgaben davon sind lesenswert!) schreibt Clark zu den Daten, die nun gerade (hoffentlich) über den Virus und seine Verbreitung gesammelt werden:
„Data become evidence only when the data are relevant to the problem or issue at hand. The simple test of relevance is whether it affects the likelihood of a hypothesis about the target.“
Wissen wir überhaupt, was unser target ist? Der in Deutschland implementierte Intelligence Cycle setzt auf die Reaktion und Anweisung von Leuten in der Hierarchie (customer), welche Analysen zum Lesen bekommen, intellektuell durchdringen müssen und daraufhin entscheiden sollen. Offenbar hat ein customer in Bayern anders entschieden als ein customer in Berlin – kein Wunder, denn jedes Land wurschtelt an seinen eigenen Analysen und Schlussfolgerungen herum. Ein US Office of the Director of National Intelligence (ODNI) sehe ich in Deutschland derzeit nicht am Horizont. Sollte man über dieses Konzept nachzudenken beginnen, dann hätte die jetzige Krise wenigstens eine gute Sache mit sich gebracht. Ich zitiere eigentlich ungerne aus der gegnerischen Staatspresse, aber bezogen auf intelligence ist es nachdenkenswert, was im Editorial der aktuellen Ausgabe von China Report gleich auf Seite 1 erklärt wird:
„In the aftermath of the crisis, China should learn from these lessons to build a more scientific and robust governance system.“
Es ist zwar ein anderer gesellschaftspolitischer und historischer Kontext, aber wenn die jetzige Situation tatsächlich die grösste Herausforderung seit 1945, also nahezu wie Krieg ist, und wenn man berücksichtigt, wieviel Hysterie, berechtigte Angst, Desinformation, Vorurteile und Verantwortungslosigkeit sich derzeit anhäufen - dann passt das letzte Zitat auch! Nachzulesen in dem tollen Buch „The Black Door. Spies, Secret Intelligence And British Prime Ministers“ von Aldrich und Cormac:
„An early cold war of subversion and subterfuge was emerging, in which incoming prime ministers would need to use intelligence subtly and wisely. Inexperienced in handling the secret world and lacking an integrated intelligence assessment community, this may have been asking too much.“










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